Mittwoch, 23. Mai 2012

Fernando Pessoa



In meinem hier erschienenen Blogeintrag „Ach, wenn ich doch nur könnte…“, vom 19. Mai 2012, erwähne ich die Versteigerung des Mahagonischreibtisches und der Royal-Schreibmaschine des Schriftstellers Fernando Pessoa, die sich am gestrigen Dienstag im Auktionshaus World Legend, hier in Lissabon, ereignet hat.
Heute bin ich von meinem Arbeitskollegen Filipe Zavarsky gefragt worden, wer denn Fernando Pessoa sei.

Nun, der bedeutende Lyriker und Sprachvirtuose Fernando Pessoa, der mit vollem Namen Fernando Antonio Nogueira Pessoa hieß, wurde am Nachmittag des 13. Juni 1888, einem Antoniustag in Lissabon, im vierten Stock des Hauses mit der Hausnummer 4 im Largo de São Carlos, genau gegenüber des Opernhauses Teatro de São Carlos, geboren.
Sein Vater, Joaquim de Seabra Pessoa, war Beamter im Justizministerium und nebenbei Musikkritiker bei der Tageszeitung "Diário de Noticias". Seine Mutter war die aus der Azoreninsel Terceira stammende Maria Magdalena Pinheiro Nogueira Pessoa.

Die ersten Jahre seines Lebens verbrachte er sehr glücklich im Kreise seiner Eltern, seiner Großmutter väterlicherseits Dionísia und den zwei älteren Hausangestellten Joana und Emilia.
Doch diese glückliche Kindheit wurde jäh unterbrochen, als er nämlich im Alter von nur fünf Jahren seinen Vater verlor, der am 24. Juli 1893 an der Schwindsucht starb.
Nach dem Tod des Vaters geriet die kleine Familie in sehr schwierige finanzielle Schwierigkeiten. So musste seine Mutter fast alle Möbeln veräußern und eine bescheidenere Bleibe in der Rua de São Marçal n° 104 suchen.
Ein paar Monate später, im Januar 1894, verstarb auch sein kleinerer Bruder Jorge, der noch nicht einmal sein erstes Lebensjahr erreicht hatte.

Kurz nach dem Tode seines Bruders lernte seine Mutter den Hauptmann João Miguel Rosa, einen Beamten des Außenministeriums, kennen und lieben.
Ende 1894 wurde João Miguel Rosa nach Durban in Südafrika beordert, um dort den Posten des portugiesischen Konsuls zu besetzen.
1895 wurde die Ehe zwischen Pessoas Mutter Maria Magdalena und João Miguel Rosa per procura in der Kirche São Mamede zu Lissabon geschlossen.

Nach der Hochzeit folgten Maria Magdalena Pessoa und ihr Sohn Fernando dem neuen Familienoberhaupt nach Südafrika.
Sie verließen Lissabon im Januar 1896 auf dem Passagierschiff „Funchal“ in Richtung der Insel Madeira.
Auf Madeira stiegen sie dann auf das englische Handelsschiff „Hawarden Castle“ um, der sie direkt an das Kap der Guten Hoffnung (port.: Cabo da Boa Esperança) brachte.

Im südafrikanischen Durban drückte Fernando Pessoa zum ersten Mal die Schulbank, nämlich in der West Street School, einer Grundschule die von irischen Nonnen geleitet wurde. Hier an dieser Schule kam er dann auch zum ersten Mal mit der englischen Sprache und Kultur in Berührung.
Im Jahre 1899 wechselte er in die Durban High School, wo er, so lange er auf dieser Schule war, jedes Jahr als einer der besten Schüler abschnitt.
Sein Englisch wurde so hervorragend, dass er im Alter von elf Jahren seine ersten Gedichte in dieser Sprache schrieb.
In dieser Zeit erschuf er eines seiner erstes Heteronymen (port.: heterónimos), nämlich Alexander Search, und fing an, durch diese erfundene Persönlichkeit, Briefe an sich selber zu schreiben.

1901 starb seine kleine Schwester Madalena Henriqueta im Alter von nur zwei Jahren.
Wenige Wochen nach dem Tod seiner Schwester reiste die Familie auf dem Handelsschiff „König“ nach Lissabon, um hier einen einjährigen Heimaturlaub zu verbringen.
An Bord der „König“ war auch der Leichnam seiner kleinen Schwester, welches in Portugal beigesetzt werden sollte.
In Lissabon wurde dann im Januar 1902 sein Stiefbruder João Maria geboren.

In dieser Zeit isolierte sich Fernando Pessoa immer mehr von seiner Mutter, die gewollt oder ungewollt, ihrem zweiten Ehemann und ihrem jüngsten Sohn immer mehr Aufmerksam schenkte, so empfand es jedenfalls der junge Fernando.
Dennoch verbrachte Fernando Pessoa, so schrieb er einmal später, damals wunderschöne Monate in Portugal. Er besuchte, unter anderem, die Familie seiner Mutter im Mai 1902 auf der Azoreninsel Terceira und auch den Verwandten seines Stiefvaters in Tavira, an der Algarve, stattete die Familie damals einen Besuch ab.

Während seine Mutter, sein Stiefvater und seine kleinen Geschwister im Juni 1902 zurück nach Durban reisten, blieb Fernando Pessoa zuerst in Lissabon bei seiner Großmutter zurück.
Erst drei Monate später, im September 1902, reiste er seiner Familie auf dem Dampfer „Herzog“ nach Südafrika nach.
Als er in Durban ankam, schrieb er sich an der Durban Commercial School, einer Handelsschule, ein und bereitete sich auf dieser für die Universität vor.
Er widmete sich immer mehr der englischen Literatur und las gerne, unter anderem, Werke von William Shakespeare, Edgar Ellen Poe und Lord Byron.

1903 bewarb er sich um einen Studienplatz für Literatur an der University of the Cape of Good Hope (port.: Universidade do Cabo da Boa Esperança), bestand aber nur knapp die Aufnahmeprüfung.
Nichtsdestotrotz schrieb er damals, am Tag der Prüfung, von 899 Kadidaten den besten Aufsatz in englischer Literatur, und erhielt dafür, mit gerade mal 15 Jahren, den Queen Victoria Memorial Prize (port.: Prémio Rainha Vitória) und somit die Aufnahme an die Universität.
Er widmete sich fortan immer mehr der englischen Poesie und den englischen Klassikern, obwohl er später in seinem Leben einmal sagen wird, das „alleine die portugiesische Sprache immer seine Heimat war“.
In seiner Zeit an der Universität von Durban erschuf er die zwei Heteronymen Charles Robert Anon und H. M. F. Lecher.

Im Jahre 1905 beschloss er sein Studium in Südafrika nicht mehr fortzusetzen und verließ die Universität, trotz der Bestnoten die er hatte.
Auch seine Professoren können ihn nicht davon überzeugen weiterhin in Südafrika zu bleiben.
Die Sehnsucht nach Portugal war wohl übergroß.
Noch im selben Jahr kehrte er in sein geliebtes Lissabon zurück – ohne Familie.
Hier lebte er mit seiner Großmutter Dionísia und zwei Tanten in der Rua da Bela Vista n° 17.
1906 schrieb er sich an der Philosophischen Fakultät (port.: Faculdade de Letras) der Universität von Lissabon ein, brach sein Studium dort aber nach noch nicht einmal einem Jahr aus Langeweile ab.

Ein Jahr später, im August 1907, starb seine geliebte Großmutter Dionísia und hinterließ ihm eine kleine Erbschaft.
Mit dem Geld das ihm seine Großmutter hinterließ, gründete er eine kleine Druckerei in der Rua da Conceição da Glória, die er auf den Namen „Empreza Ibis – Typographica e Editora – Officinas a Vapor“ (dt.: „Unternehmen Ibis – Buchdruckerei und Verlag – Dampfdruckwerkstatt“) taufte, mit der er aber alsbald bankrott ging.

Fernando Pessoa erholte sich nur schwer von dieser Niederlage und aus ihm wurde fortan ein unscheinbarer Büroangestellter und Fremdsprachenkorrespondent, der sich gerne hinter dicken Brillengläsern versteckte – jedenfalls vormittags.
Denn nachmittags saß er stundenlang in den Lissabonner Cafés und diskutierte, schrieb und trank und füllte eine große Truhe mit unzähligen Manuskripten.

Im Jahre 1912 veröffentlichte er in der Zeitschrift „A Águia“ seinen ersten Artikel über „Neue portugiesische Dichtung“ (port.: „A nova poesia portuguesa“) und Dank dieses Artikels bildete sich ein avantgardistischer Kreis, dem fortan Pessoa selbst, sein enger Freund Mario de Sá Carneiro, der vielseitige Künstler Almada Negreiros sowie die Maler Santa-Rita Pintor und Amadeo de Sousa Cardoso angehörten.
Dieser Kreis von Literaten, das sich fortan regelmäßig im Café „A Brasileira“ im Chiado traf oder aber auch im Café „Martinho da Arcada“ auf der Praça do Comercio zusammenkam, machte es sich zum Ziel, das in ihren Augen nach der Abschaffung der Monarchie im Jahre 1910 träge und selbstzufrieden gewordene Land, wachzurütteln. Außerdem wollten sie damals, wie sie es ausdrückten, „der Ignoranz, dem Fanatismus und der Tyrannei“ entgegentreten.

Mit dem Geld des wohlhabenden Vaters von Mario de Sá Carneiro erschien 1915 die um eine radikale Erneuerung bemühte literarische Zeitschrift „Orpheu“, die gleich am Erscheinungstag zum Skandal wurde.
Vom ersten Tag an, war „Orpheu“ das Tagesgespräch von ganz Lissabon und auf offener Straße wurde mit dem Finger auf Pessoa und seine Herausgeberfreunde gezeigt.
Der plumpe Hohn, den sich die Konkurrenz in den Tagen nach der Erscheinung der Zeitschrift erlaubte, war die beste Reklame für das aufmüpfige Unternehmen.
Die Werbung war so gut, dass nach drei Wochen die Auflage des „Orpheu“ vergriffen war.
Nur Sá Carneiros Vater war von der ganzen Sache nicht so begeistert und stellte gleich nach der zweiten Nummer der Zeitschrift die Finanzierung ein.
Nach dem Ende des „Orpheu“ zerfiel die Literaten-Gruppe um Fernando Pessoa allmählich. Als sein Freund Mario de Sá Carneiro 1916 in Paris Selbstmord beging, glitt Pessoa immer mehr in die Einsamkeit ab.

1917 versuchte sein Schriftstellerfreund Almada Negreiros an dem Erfolg des „Orpheu“ anzuknüpfen und gab die erste und einzige Nummer der Zeitschrift „Portugal Futurista“ heraus, in dem Fernando Pessoa, unter dem Heteronymen Àlvaro de Campos, einen sehr provozierenden Text mit dem Titel „Ultimato“ veröffentlichte.
Das Pessoa unter anderen Namen schrieb, war für ihn Selbstverständlich und mit der Zeit wurden Heteronymen ein Markenzeichen Fernando Pessoas.

Heteronymen gehen über ein gewöhnliches Pseudonym weit hinaus.
Heteronymen werden immer mit einer eigenen Statur und Physiognomie, mit einem Horoskop und einem Lebenslauf, mit einer eigenen Persönlichkeit und einem eigenen Stil versehen.
Fernando Pessoa war beim erfinden solcher Persönlichkeiten ein wahrer Weltmeister!
Auf der Suche nach dem Ich, das er nie finden konnte, spaltete sich Pessoa in unterschiedliche „alter ego“ auf, die einander und Pessoa selbst widersprachen, sich gegenseitig kritisierten und alle unter ihrem erfundenen Namen literarisch tätig waren.

Zu Fernando Pessoas Phantasiegestalten gehörten Alberto Caeiro, der blonde und blauäugige Lissabonner ohne Schulbildung und Beruf, Ricardo Reis, der Arzt aus Porto mit einer humanistischen Bildung, der monokeltragende Àlvaro de Campos, der in Glasgow zum Schiffsingenieur ausgebildet wurde und provozierende Artikel schrieb und Chevalier de Pas, der Briefe an Pessoa verfasste.
All diese Personen waren zwar alle literarisch existent, aber sie waren nichts weiter als die reine Phantasiebildung eines Mannes.
So erfand Pessoa seine eigene, große Dichterfamilie, eine Familie die zum Schluss aus sage und schreibe mindestens 76 Heteronymen bestand!

Aber Fernando Pessoa war in Wahrheit ein einsamer Mann!
Er lebte sehr zurückgezogen, fast ohne menschliche Bindungen.
Schreiben war für Pessoa eine Mission, die mönchische Zucht verlangte und ihn völlig beanspruchte.
So ist auch nur eine Liebesbeziehung Fernando Pessoas bekannt.
Im Jahre 1920 verliebte er sich in Ophélia Queirós, einem fröhlichen, 19 jährigen Mädchen. Bei ihr suchte er so etwas wie einen Ausweg aus seiner inneren Isolation.
Sie trafen sich fast täglich, doch nach nur neun Monaten brach Pessoa seine Beziehung zu Ophélia ab.
Sein Schicksal, so schrieb er in einem Brief an das Mädchen, stehe unter einem anderen Gesetz.
Später, im Jahre 1929, lebte die alte Liebe zwischen Pessoa und Ophélia noch einmal auf, aber nach nur vier Monaten trennte sich das Paar erneut.

Am 17. März 1925 starb seine geliebte Mutter.
Er wurde nun zunehmend depressiv, trank immer mehr und öfters und stürzte irgendwann in eine große Identitäts- und Wahrheitssuche.
Er wendete sich immer mehr dem Okkultismus und der Esoterik zu, fing an englischsprachige theosophische Schriften zu übersetzen und interessierte sich immer mehr für den Sebastianismus.

Er erholte sich nach einiger Zeit wieder und fing erneut an zu schreiben.
Nach Jahren ununterbrochenen Umherziehens ließ er sich endgültig in einem Haus in der Rua Coelho da Rocha n° 16, im Stadtteil Campo de Ourique, nieder und lebte dort bis zu seinem Tod.
Dort schrieb er eines seiner größten Werke, das 1934 veröffentlichte lyrische Epos „Mensagem“.

Anfang November 1935 erkrankte Fernando Pessoa schwer.
Er war erst 47 Jahre alt, aber seine jahrelangen Alkoholexzesse und das starke rauchen machten sich nun negativ bemerkbar.
Am 29. November 1935 wurde er in das Krankenhaus Hospital de São Luís dos Franceses eingewiesen und die Ärzte diagnostizieren ihm eine schwere Leberzirrhose.
Ans Bett gefesselt, brachte er in englischer Sprache seine letzten Worte zu Papier:

„I know not what tomorrow will bring!“
(port.: „Não sei o que o amanhã trará!“ / dt.: „Ich weiß nicht, was der morgige Tag bringen wird!“)

In der Nacht fiel er ins Koma und am Tag darauf, dem 30. November, versagten seine Nieren und er erlag seinem schweren leiden.

In der Gestalt seines Heteronymen Alberto Caeiro sagte Fernando Pessoa einmal über sich selbst:
„Wenn ihr nach meinem Tod meine Biographie schreiben wollt, so ist nichts leichter als dies. Sie hat nur zwei Daten – Geburts- und Todestag. Alle Tage dazwischen gehören mir!“

Im Jahre 1988, anlässlich seines einhundertsten Geburtstags, wurden seine Gebeine vom Friedhof Prazeres (port.: Cemitério dos Prazeres) in das berühmte Lissabonner Hieronymuskloster (port.: Mosteiro dos Jeronimos), einem der portugiesischen Heiligtümer, überführt.
Hier ruht er nun neben Männern wie Vasco da Gama, Luis Váz de Camões und König Manuel I.
Ihm wurde damit eine Ehre zuteil, die ihm zu Lebzeiten stets verwehrt worden war.

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